Manifest:
Globaler Mindestlohn für mehr Gerechtigkeit

Weil es in großen Teilen der Welt keine Lohnuntergrenzen gibt, können in Europa viele Produkte günstig angeboten werden. Georgios Zervas und Peter Spiegel wollen die Ungerechtigkeit nicht hinnehmen und haben ein Manifest verfasst. Darin fordern sie: einen Dollar Mindestlohn für jede geleistete Arbeitsstunde weltweit.

Von Anne-Kathrin Weber

Arbeiter einer Schneiderwerkstatt in Indien, Andaman Islands (Imago / blickwinkel)

Was wäre, wenn es einen weltweiten Mindestlohn gebe? (Imago / blickwinkel)
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Sollten wir bereit sein, ein kleines bisschen mehr für unser Paar Jeans zu bezahlen? Der selbstständige Unternehmensberater Georgios Zervas und der Soziologe Peter Spiegel sind der Meinung: Ja, das sollten wir, denn wir könnten so fast jedes globale Problem, das unsere Menschheit momentan plagt, recht einfach lösen. Und zwar, indem wir einen weltweiten Mindestlohn von einem Dollar netto pro Arbeitsstunde einführen. Das ist die steile These, die Zervas und Spiegel in ihrem Manifest „Die 1-Dollar-Revolution. Globaler Mindestlohn gegen Ausbeutung und Armut“ aufstellen.

Sie sind der Meinung: Mit diesem globalen Mindestlohn, der zum Beispiel den Näherinnen und Nähern unserer Jeans zugutekäme, könnten die elende Armut auf der Welt und ihre Folgeprobleme – wie beispielsweise die weltweiten Flüchtlingsströme – im großen Stil behoben werden. Dass wir umgehend handeln müssen, ist in den Augen der Autoren unsere Pflicht als Weltbürger:

„Moralische Integrität gibt es heute nicht mehr, wenn nicht endlich gemeinschaftlich die Beseitigung der milliardenfachen modernen Sklaverei in der Form lebenslänglicher, absolut menschenunwürdiger Sklavenlöhne angepackt wird. Eine ‚Politeia‘, die diesen Namen auch für das Zeitalter der Globalisierung verdienen möchte, muss die konsequente Abschaffung der modernen Sklaverei an die Spitze ihrer Agenda setzen.“

Ein globaler Mindestlohn in Höhe von einem Dollar pro Stunde ist nach Ansicht der Autoren eine Größenordnung, die „einerseits die schlimmsten Formen ausbeuterischer Entlohnungen mit einem Schritt weltweit beseitigen würde und andererseits von der Weltökonomie nach unserer Überzeugung problemlos getragen werden könnte.“

Denn ein globaler Mindestlohn erzeuge Wettbewerbsneutralität, weswegen die Chancen gut stünden, dass Unternehmen weltweit den Vorschlag unterstützen würden. Auch für uns Verbraucher, schreiben die Autoren, „bleibt der tatsächliche Kostensteigerungseffekt in unseren Ländern im marginalen Bereich.“

Die Internationale Arbeitsorganisation ILO solle, den Autoren zufolge, den Mindestlohn festlegen und jährlich entsprechend dem Weltwirtschaftswachstum anheben. Analog sollten in Branchen, in denen ein regelmäßiges Einkommen nicht möglich ist, Mindestpreise angesetzt werden, die einen Dollar pro Arbeitsstunde gleichkommen.

„Ist dieses Ziel unrealistisch? Es ist genauso realistisch oder unrealistisch wie jedes andere kühne Ziel, das bisher von Menschengehirnen erdacht, gefordert, vorangetrieben und so verblüffend oft umgesetzt wurde.“

Pathos und konkrete Gedanken

Neben dem Pathos, der in vielen Zeilen wie diesen durchschwingt, präsentieren die beiden Autoren weiterhin sehr konkrete Gedanken: Sie sehen vor allem die Europäische Union in der Pflicht, den globalen 1-Dollar-Mindestlohn sowie den Mindestpreis als Standards zu etablieren. Nur Produkte, die diese Kriterien sowie die Sozial- und Umweltnorm SA8000 und ISO 14001 erfüllten, sollten auf dem EU-Markt zirkulieren dürfen. So erhoffen sich Zervas und Spiegel ausreichend Druck auf Weltwirtschaft und internationale Politik, dass dieses – Zitat – „globale Wirtschaftswunder“ Wirklichkeit werden könne.

Für diesen auf den ersten Blick ziemlich utopisch erscheinenden Vorschlag verzichten Spiegel und Zervas leider weitgehend auf eine tiefere und wissenschaftliche Analyse. Es ist auffällig, wie wenig Quellen die Autoren heranziehen. Unter den „Textnachweisen“ lassen sich nur sechs Einträge finden, und auch im Text wird daneben nur vereinzelt auf andere Studien verwiesen. Ein Abschnitt im Buch weist zudem eine gewisse Nähe zu dem im Frühjahr erschienenen Bildungsmanifest „Wer überlebt?“ der Demografen Reiner Klingholz und Wolfgang Lutz auf, ohne dass dies an entsprechender Stelle gekennzeichnet ist. Ihre Thesen untermauern die Autoren hingegen unter anderem mit dem Verweis auf das vermeintliche Paradebeispiel der Mikrokredite. Das ist nicht wirklich überzeugend, denn deren Wirkung ist umstritten. Zudem versuchen sie, ihre Thesen mit Behauptungen zu erklären, die sie als geschlossenen Fakt präsentieren – wie beispielsweise diese Aussage:

„Ein Mindestlohn stärkt das Heranwachsen einer selbstbewussten und mündigen Zivilgesellschaft. Je mündiger eine Zivilgesellschaft, desto weniger lässt sie sich in kriegerische Auseinandersetzungen hineinziehen und desto kreativer wird sie darin, derartige Konfliktsituationen in Richtung friedlicher Lösungen zu beeinflussen.“

Neben einer weltweiten Lohnuntergrenze schlagen Spiegel und Zervas auch noch eine einprozentige Abgabe aller Länder der Welt auf deren Bruttoinlandsprodukt vor. Aus dem so eingenommenen Geld solle eine globale Arbeitslosen- und Sozialversicherung für all jene Menschen finanziert werden, die keine solche Absicherung haben. Auch bringen die Autoren eine zusätzliche Konsumsteuer von einem Prozent auf alle Produkte und Dienstleistungen ins Spiel, um die „Global Goals“ der Vereinten Nationen zu finanzieren. Diese Idee präsentieren sie auf gerade einmal einer Textseite. Es wirkt daher fast ironisch, wenn die Autoren schreiben:

„Dieses Buch setzt auf bewusst einfache Lösungskonzepte, die das Potenzial in sich tragen zu systemischen Sprüngen auf neue Ebenen menschlicher und menschheitlicher Gestaltungsfähigkeit.“

Revolutionäres Wirtschafts- und Sozialkonzept für die gesamte Welt

Gerade aber weil es um ein wirklich revolutionäres Wirtschafts- und Sozialkonzept für die gesamte Welt geht, hätte eine fundiertere und fokussiertere Herangehensweise dem Buch nicht geschadet. Doch neben aller Kritik: Spiegel und Zervas tun gut daran, die bisherigen Bemühungen um die Abschaffung von Armut in der Welt zu verurteilen. Diese seien „bestürzend und beschämend für eine Welt, die so reich ist, wie sie ist“.

Und sie haben recht: Wir müssen etwas tun und endlich anfangen, systemisch und global zu denken. Die Idee eines weltweiten Mindestlohns erscheint dahingehend im Prinzip als ein durchaus interessanter und innovativer Vorschlag, dem nachzugehen sich lohnt. Denn, wie Spiegel und Zervas schreiben, haben wir eine große Verantwortung, die auf unserer Identität beruhe, nämlich „die Identität als Weltbürger, als Bürger der einen unteilbaren Erde, als Mitglied der unteilbaren Menschheit, die heute über unzählige Fäden milliardenfach und fundamental schicksalhaft miteinander verbunden ist“.

Georgios Zervas/Peter Spiegel: „Die 1-Dollar-Revolution. Globaler Mindestlohn gegen Ausbeutung und Armut“
Piper Verlag, 256 Seiten, 20,00 Euro

http://www.deutschlandfunk.de/manifest-globaler-mindestlohn-fuer-mehr-gerechtigkeit.1310.de.html?dram:article_id=363103